51. Internationale Kurzfilmtage Oberhausen, 5.-10. Mai 2005

Der gefallene Vorhang: Das Ich und das Andere nach 1989

In ihrem Sonderprogramm 2005 fragen die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, wie die Menschen ihre Identität und ihr Verhältnis zur Gesellschaft seit 1989 neu gestalten - und wie Kurzfilme im ehemaligen „Osten“ und „Westen“ diese Suche spiegeln.

Mit dem Abbau der Grenzzäune in Ungarn ging ein Zeitalter zu Ende, welches die Welt ein halbes Jahrhundert in klar definierte Blöcke geteilt hatte. Der Kapitalismus herrscht nun allein, und die Suche nach individueller und kollektiver Identität wird in einer Welt, die keine Orientierung mehr in politischen Systemen bietet, zur zentralen Frage. Religionen, Nationen und Kulturen werden als kollektive Bollwerke gegen den drohenden Ansturm des „Empires“ à la Hardt/Negri aufgebaut, während für diejenigen, die weder den Verheißungen der sozialen Marktwirtschaft noch reaktionären Ideologien folgen möchten, eine lange und schwierige Suche nach Alternativen beginnt - nach dem Anderen. „’Das Ich und das Andere nach 1989’ versteht sich als eine Bestandsaufnahme grundsätzlicher Fragen, die die Kunst an die Gesellschaft seit 1989 stellt”, sagt Kurator Marcel Schwierin.

Der Blick nach innen als politischer Blick

Entsprechend ist der kurze Film seit den 90er Jahren wesentlich von Individualisierung bestimmt: Aufarbeitung der eigenen Kindheit, psychologische Strukturen, persönliche Blicke auf die Gesellschaft. Oft genug wurde ihm das als Rückzug aus dem Politischen in das Private vorgeworfen. Doch was hier verhandelt wird, ist soziologische Grundlagenarbeit: Der Nukleus gesellschaftlicher Struktur, das Verhältnis vom Ich zum Anderen, wird neu beleuchtet. Jegliche neue Vision einer Gesellschaft, so scheint der Film seit 1989 zu sagen, sollte nicht auf der Analyse von Makrostrukturen, sondern der genauen Beobachtung des Menschen basieren.

Matrix Sowjetunion

In der Sowjetunion begann der Prozess der Identitätssuche schon sehr viel früher: In dem multinationalen Zentralstaat mit erstaunlich unabhängigen Provinzen entwickelte sich ein schwieriger, aber fruchtbarer Dialog, der zu einzigartigen Filmkulturen zum Beispiel in Armenien, Georgien und Kasachstan führte. Die lokalen Filmkulturen waren dabei oft weniger Ausdruck genuin nationaler Identität als Produkt eines intensiven kulturellen Austausches zwischen dem Zentrum Moskau und den Regionen. So erweist sich die Frage, was Filmemacher in der Sowjetunion vor und nach 1989 verhandelt haben und wie ihre Arbeiten mit westlichen Produktionen korrelieren, als Matrix für eine Untersuchung des Problems, das viele heute für das zentrale der Welt halten: das Verhältnis von supranationaler und lokaler kultureller Identität. „‘Das Fenster zum Osten’, das war ein wesentlicher Teil von Oberhausens Ruf vor 1989”, erklärt Festivalleiter Lars Henrik Gass. „Doch die Kurzfilmtage haben immer vor allem danach gefragt, wie sich gesellschaftliche Realität in Bildern spiegelt. In gewisser Weise stellt dieses Programm eine Essenz unserer Anliegen dar.”

Themen

Die verlorene Utopie einer anderen Gesellschaft, der fallende Vorhang, Versuche, das Andere zu begreifen, Beziehungen, die Familie als „Keimzelle der Gesellschaft“, Individuum und Politik, all das gehört zu den Themen, die „Das Ich und das Andere nach 1989“ in Einzelprogrammen aufgreift. Andere Programme beleuchten den Materialismus als gemeinsame Grundlage von Sozialismus und Kapitalismus, Science Fiction als weltumspannende Utopie der 60er Jahre, Verschwörungstheorien als die gefährlichsten aller Welterklärungen (kuratiert von Christiane Büchner) und schließlich das Verhältnis des Menschen zu den Tieren, den gänzlich anderen Lebewesen dieser „einen Welt“.

(nach einer Pressemitteilung der Kurzfilmtage Oberhausen)

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