Diesseits der Leinwand

Harry-Potter-Performance von Nora Jacobs im Koki Kiel

Nicht in die Kamera zu schauen, ist eine der ältesten Regeln des Filmhandwerks. Denn der Blick in die Kameralinse geht meistens ins Auge, und zwar in das des Zuschauers, der damit aus seiner voyeurhaften Anonymität im Dunkel des Kinosaals gerissen wird. Wenn sich die Filmprotagonisten direkt an die Kamera wenden, wird ein Blickkontakt zum Publikum vorgetäuscht, der die Suggestionskraft des Kinos auf die Spitze treibt und gleichzeitig zerstört. Nachrichtensprecher und Fernsehmoderatoren versuchen so die Glaubwürdigkeit ihrer „non-fiction“-Formate zu betonen. George Orwells „Großer Bruder“ herrschte und kontrollierte mit bohrenden Augen aus dem Televisor heraus, und Oliver Hardy erheischte mit Seitenblicken in die Kamera die Solidarität des Publikums, wenn die Absurdität seiner Lage mal wieder die Grenzen der Leinwand sprengte.

Auch die aus Kiel stammende Kunststudentin Nora Jacobs (geb. 1984) lotet mit ihrer Arbeit „Harry Potter“ die Grenzen des Mediums aus. In Ihrem Video, das am 24. Juni im Saal des Kommunalen Kinos in Kiel mit Unterstützung der Kulturellen Filmförderung gedreht wurde, blickt sie zwei Stunden und zwanzig Minuten lang unbeirrt, direkt und in Großaufnahme in die Kamera und rezitiert auswendig das vollständige Textbuch von „Harry Potter and the Sorcerer’s Stone“, der ersten Joanne K. Rowling-Verfilmung von 2001, inklusive lustvoll unmelodiös gesummter John-Williams-Musik und mundgemachter Soundeffekte. Fast zweieinhalb Stunden wechselt sie weder Blick noch Körperhaltung, und die Ruhe ihrer Pupillen offenbart dem fernsehgeschulten Kenner, dass kein Teleprompter im Spiel ist. Nur ein unsichtbarer Knopf im Ohr und eine DVD, die das Timing zum Synchronsprechen vorgibt.

Here's looking at you, kid: Nora Jacobs' Intallationsvideo „Harry Potter"

Was zunächst wie ein Partygag oder eine Kneipenwette erscheint, kippt schnell in eine Performance von beängstigender Konsequenz. Die Frau auf dem Bildschirm bekommt in ihrem Redefluss etwas maschinenhaftes, auch wenn Brille und Pony allmählich ins Rutschen geraten und sich nach und nach ein angestrengter Glanz auf den Teint legt.

Das Set zum Dreh im Kieler Koki (Fotos: Lorenz Müller)

Ironisch wird dabei die Kinosituation auf den Kopf gestellt. Der Blick auf den Bildschirm geht in die andere Richtung, in den Kinosaal hinein, wo wir erahnen müssen, welcher Film im Kopf der Zuschauerin abläuft. Sie sieht etwas, das wir nicht sehen. Nora Jacobs inszeniert sich dabei selbst als eine Art menschliches Speichermedium, das in einer fast zweieinhalbstündigen Litanei dem Fetisch des Kinos huldigt, und dabei den inflationär gebrauchten Begriff des „Kultfilms“ wörtlich nimmt.

Die Wahl eines popkulturellen Massenphänomens wie „Harry Potter“ macht das Projekt übertragbar auf die gesamte kommerzielle Unterhaltungsindustrie, die vor allem die eskapistischen Bedürfnisse des Publikums bedient; die Flucht in die Traumwelt auf der anderen Seite der Leinwand. Gleichzeitig ist aber auch der Zauberlehrling Harry ein symbolhafter Grenzgänger zwischen der „realen“ Menschenwelt und der Sphäre des Unwirklichen, der Magier und Fantasy-Gestalten.

Auch wenn sich im nachhinein alles schlüssig ineinander fügt, geschahen die ersten Schritte in Richtung des Harry-Potter-Projekts aus dem Bauch heraus, wie Nora Jacobs erklärt. Mindestens viermal hatte sie den Film mehr oder weniger freiwillig über sich ergehen lassen, als sich die Textpassagen allmählich im Kopf festsetzten. Mit der Lust am schauspielerischen Vortrag und dem Fluss der Sprache reifte die Idee und stieß auf das Interesse Ihres Professors Peter Kogler an der Akademie der Bildenden Künste in Wien, wo sie nach dem Abitur am United World College in Hongkong und verschiedenen Projekten im Theaterbereich nun Bildende Kunst, Computer- und Videokunst studiert. „Harry Potter“ ist ihre erste Video-Arbeit.

Bisher hat sie sich vor allem mit Themen der Nacktheit und Entblößung, mit Fragen von Haut und Hülle, mit Alter und Verfall beschäftigt. Sie hat Objekte in Hühnerhaut eingenäht, auch in Anlehnung an die Fellobjekte von Meret Oppenheim, und sie schätzt die skulpturalen Arbeiten der New Yorker Künstlerin Zoe Leonard (geb. 1961), die z.B. für „Strange Fruits“ hunderte von leeren Obstschalen wieder mit Nadel und Faden zusammenflickte.

Der Bogen zu „Harry Potter“ scheint da weit gespannt, doch gerade Zoe Leonard arbeitet auch fotografisch und sieht eine Fotografie, in Analogie zu ihren hohlen Fruchtobjekten, dabei vor allem als leere Erinnerungs-Hülse, deren eigentlicher Kern und Inhalt verloren sind.

Auch die gegenstandslosen Performances des Berliner Künstlers Tino Sehgal (geb. 1976), sind eine Inspirationsquelle, die in Nora Jacobs’ Videoarbeit unterschwellig eingeflossen sein könnte. Denn so wie Sehgal mit seinen nach Plan singenden, flüsternden und tänzelnden Museumswärtern (bis 6. November noch im deutschen Pavillon der Biennale in Venedig) immer wieder Fragen der musealen Kunstpräsentation aufwirft, thematisiert auch das Harry-Potter-Video mit seiner verschachtelten „Film-im-Kopf-im-Film“-Präsentation die Rezeptions-Situation im Kino und vorm Bildschirm.

Obwohl Nora Jacobs erst im dritten Semester ist, wurde die Arbeit bereits im Rahmen einer Examensausstellung in der Nähe von Wien gezeigt. Und wären Tino Sehgals Museumswärter dort gewesen, hätten sie zurecht den Satz gesäuselt, der auch in Venedig täglich zu hören ist: „Oh, this is so contemporary!“. (Lorenz Müller)

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