10. Filmfest Schleswig-Holstein – Augenweide

Visuelle Wassermusik

„Kobe” (Rainer Komers, D 2005)

Man sagt, dass blinde Menschen sich im Regen besser orientieren können, weil auf nassem Boden intensivere Geräusche entstehen und auch unbewegliche Gegenstände durch das Auftreffen der Regentropfen wahrnehmbar werden. Insoweit muss eine Stadt des Wassers auch immer eine Stadt der Töne sein. Das mag einer der Gründe gewesen sein, weshalb sich Rainer Komers (geb. 1944) in seinem aktuellen „nonverbalen Dokumentarfilm” (Komers) der japanischen Hafen- und Industriemetropole Kobe gewidmet hat, die sich über 25 km entlang der Meeresküste windet.

Bekannt wurde der Name der westlich von Osaka gelegenen 1,4-Millionen-Stadt durch das gewaltige Erdbeben vom 17. Januar 1995, das über 6.000 Menschen das Leben kostete. Die Verwüstung einer modernen, weitgehend als erdbebensicher geltenden Großstadt erschütterte den Fortschrittsglauben und das Technikvertrauen der japanischen Nachkriegsgesellschaft in ähnlicher Weise, wie es die Europäer neun Jahre zuvor durch den Tschernobyl-GAU erlebt hatten.

In seiner Filmtrilogie „Erdbewegung” (1999-2004) folgte Komers in jeweils halbstündigen Portraits zentralen Verkehrsadern durch nachindustrielle Reviere im Ruhrgebiet („B 224”), in Indien („NH 2”) und in Alaska („Nome Road System”). Im Unterschied dazu zeigt „Kobe” eine höchst lebendige, aus der Asche erstandene Stadtlandschaft, die alle Aspekte der Urbanität in sich vereint. Der dreiviertelstündige Film bildet den Auftakt einer weiteren Trilogie, diesmal über Hafenstädte. Dieses serielle Denken in Reihen und Folgen findet sich auch in der Binnenstruktur von Rainer Komers‘ Filmen, so auch in „Kobe”.

Wer das Gestaltungskonzept noch nicht kennt, wartet in den ersten Minuten gebannt auf erklärende Worte, versucht die wohlkadrierten aber scheinbar ungeordneten Super-16mm-Bilder in sinnfälligen Zusammenhang zu bringen, bis sich nach und nach die Erkenntnis einstellt, dass es der Ton ist, der hier die Musik macht. In einer langen Assoziationskette werden die Bilder aneinander gefügt. Mal ähneln sie sich visuell, mal liegen sie in geografischer Nachbarschaft, meist ist es jedoch der individuelle Klang, der sie verbindet, trennt oder rhythmisiert. Auf die donnernde Trommelperformance einer Schulsportgruppe folgt das maschinengewehrähnliche Staccato eines Lötautomaten, der Computerplatinen bestückt. Auf das tosende Kielwasser eines Hafenschleppers folgt das sanfte Plätschern einer rituellen Händewaschung im Tempel. Eine rasselnde Gebetsglocke leitet über zum Prasseln von Perlen in einer Stahldose.

Vieles erscheint vertraut, manches bleibt rätselhaft, einiges wirkt aus eurozentrischer Sicht unfreiwillig komisch. Es ist jedoch nicht die Perspektive eines ahnungslosen Touristen, sondern die eines allwissenden, aber sehr schweigsamen Erzählers, der der Film folgt. Mikrofon und Kamera springen schwerelos vom Kai in die Kanzel einer Containerbrücke, vom Fundament der gigantischen Akashi Kaikyo Brücke hinauf in ihre inneren Wartungsgänge und weiter auf die Spitze ihrer Pylonen. Erstaunt stellt man fest, wie groß die Vielfalt der immer wiederkehrenden Wassergeräusche sein kann, bis hin zum skurrilen Pfeifen eines Kaffeeverkosters beim Testschmecken.

In der akustischen Kunst bezeichnet man vergleichbare Hörbilder von Städten und Landschaften als „Soundscape”. Während diese jedoch meist zu einem fließenden Klangteppich gewoben sind, setzt Komers auch auf harte Zäsuren und Kontraste. Außerdem besteht er darauf, dass seine Arbeitsweise genuin filmisch sei, und eben nicht nur die Bebilderung eines Hörspiels. Denn er zeige immer den Ursprung des Geräusches, und der Ursprung liege in der Bewegung, und der Film sei das Medium der Bewegung.

In der Mitte des Films sieht man die schweigsame und hochkonzentrierte Arbeit in einer Perlenproduktion. Berge der kleinen Perlmuttkugeln werden Stück für Stück untersucht, bewertet, geordnet, ausgemustert, erneut geordnet und schließlich nach äußerlich kaum nachvollziehbaren Kriterien akribisch auf eine Schnur gezogen. Jede einzelne Perle ist ein Kleinod, zum kostbaren Geschmeide werden sie aber erst durch die ordentliche Reihung. Als Zuschauer ahnt man, wie sehr sich der Filmemacher in diesen Bildern wiedergefunden haben muss. (Lorenz Müller)

Kobe, D 2006, 44 Min., Kamera, Produktion, Regie: Rainer Komers, Ton: Michel Klöfkorn, Tonmischung: Tilo Busch, Schnitt: Bert Schmidt. Beim Filmfest Schleswig-Holstein Augenweide zu sehen am So, 21.5., 20 Uhr im Abschlussprogramm.

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