Erfreulich unberechenbare Springflut

Rückblick auf das 2. Performance Festival „Springfluten“

Es ist Vollmond, Mond und Sonne stehen in Opposition, die Erde dazwischen, ihre Meere ausgesetzt der Wahrscheinlichkeit einer Springflut. Hat Alexandra Gneissl, Organisatorin des 2. Performance Festivals im Landeskulturzentrum Salzau (10. bis 12. Juni), vielleicht auch diese zum Motto „Springfluten“ passende Konstellation geplant? Wohl nicht, denn sie sitzt zu ihrer Eröffnungs-Performance „Chefsache“ unbeweglich im ungeliebten Chefsessel, der so gar nicht staatstragend ist, sondern von Künstlerkollegen geschultert wird. Vielmehr sind ihr Mund, Augen und Ohren von Binden in den Landesfarben Blau-Weiß-Rot gefesselt.

Performance, diese „ephemere, nur dem Augenblick geschuldete und huldigende Kunst“, wie sie die Regisseurin Ingrid L. Ernst in ihrem Eröffnungsvortrag umreißt, ist wie so eine Springflut: Unberechenbar und doch erwartet, fassbar, indem sie sich berechnend unfassbar gebärdet. Eine Kunst, die vielleicht noch am ehesten Kunst ist, weil sie ihr Kunst-Sein permanent performierend hinterfragt. So plastisch, so ein-eindeutig etwa Iris Selke in „Narziss“ den Spiegel, den sie sich und dem sie umgebenden Publikum ganz buchstäblich vorhält, am Ende an ihrer Stirn zerschellt, so wenig ist das ein Brett vor dem Kopf der Kunst.

Iris Selke: „Narziss“

Und vor dem Körper, den Performance-Künstler bedingungslos narzistisch als letztes Residuum des Selbst in einer vollständig medialisierten Welt einsetzen, bis die Schmerzgrenze überschritten ist. Ja, es muss weh tun, wenn Kunst ist! Wie bei Muthesius-Student Stephan Tresp, der sich in seiner Dauerperformance just im Eingang zum Herrenhaus Salzau in die Haken und Ösen hängt, die ihn in seiner Parodie des sisyphusschen Kletterns ohne Ziel schwerelos halten. Beifall für eine Performance, die schon vor der offiziellen Eröffnung des Festivals „springflutet“, weil sie leicht schwebend genau die Gravitation ad absurdum führt, die Springfluten auslöst.

Stefan Tresp – schwerelos

Symbolische Schwere und luzide Leichtigkeit mit ostentativ doppeltem Boden bestimmen das Festival gleich zu Beginn. Nebst der Frage, ob man das dokumentieren, konservieren kann – oder soll? Der geht Johannes Lothar Schröder in seiner „relic lounge“ nach. Die Objekte, mit denen er wie mit Engelsflügeln, die doch der springflutenden Schwerkraft gehorchen müssen, flattert und klappert, wie es zum Kunstgeschäft gehört, sind aus Papier. Das ist bekanntlich geduldig und enthält hier Relikte der Reflektion über Performance, Artikel (auch dieser Zeitungsartikel ließe sich darin eingemeinden), Skizzen, Beschreibungen von gewesenen Performances, die jetzt aus diesem „lebendigen Archiv“ wiedererweckt werden. „Transformation der Objekte in einen neuen Raum und eine neue Zeit“, so nennen das Ingrid L. Ernst und auch Annette Grass, Vertreterin des Hauptsponsors Staatskanzlei, Abteilung Kultur, in ihren Grußworten sinngemäß einhellig.

Johannes Lothar Schröder: relic lounge

Kunst und Leben, eine alte Opposition, eine Gratwanderung zwischen der Unmittelbarkeit der Existenz und dem Konstrukt der Kunst, die wohl kaum eine andere Kunstform so nachhaltig berührt wie die Performance Art. Wer etwa den rund 40 Menschen im Salzauer Garten zusah, wie sie bunte Bälle durch die Luft werfen, im sich Zuwerfen in Kommunikation des „Etwas mit Allem“ treten, hätte, nicht wissend, dass sich hier die Fluxus-Performance „Something with Everything“ der Amerikanerin Shannon Cochrane mit Publikumsbeteiligung ereignet, an eine Selbsterfahrungsgruppe denken können. Und hätte damit gar nicht so falsch gelegen – in beide Richtungen. Performance, das zeigten die „Springfluten“, ist (Selbst-) Erfahrungskunst. Und dass diese sich zuweilen äußerlich nicht von einer gemeinschaftlichen Yoga- oder Sport-Ausübung unterscheidet, zeigt die Nähe dieser Kunst zum Leben, das normalerweise nicht als Kunst gilt. Sie macht das Leben zur Kunst, die Kunst lebendig – und uns alle zu Künstlern.

Andreas Peiffers „aufreißen“ zeigt dabei auch die Nähe zum athletischen Kraftakt. An einem geschulterten Gestell hat der Student der Muthesius Kunsthochschule einen Trennschleifer befestigt, der, hielte er ihn nicht mit ausgestrecktem Arm hoch, ihn unweigerlich verletzen würde. Sechs Minuten hält er diese Kräfte zehrende Aktion durch, dann schaltet die Zeitschaltuhr das Sägegerät ab. Sichtbares Muskelzittern, die Anspannung im Gesicht beweisen, dass Performance-Künstler sich und ihren Körper am Rande der Gefahr einbringen, Artisten unter der Zirkuskuppel nicht unähnlich, nur unbedingter.

Am Rande der Gefahr: Andreas Peiffer

Auch der Israeli Beni Kori scheut keinen Schmerz, denn schließlich geht es in seiner „Folklore“ um eben den. In einer Leibesvisitation legt er sein Innerstes offen – auf den Boden. „Mein Ich“, „meine Familie“ führt er vor in diesem in seiner Heimat an Checkpoints erzwungenen Akt der Entblößung, schlägt sich mit den Händen auf den Bauch, bis dieser vor Schmerz errötet, was, aufgenommen von einem Kassettenrekorder, wiederum den Beat für einen Tanz abgibt. Das Leben einmal raus aus dem Körper der Kunst und wieder hinein.

Oder auch „Dismember-Remember“, wie die Amerikanerin Rose Hill ihre Methode der Zerlegung und des wieder Zusammensetzens des Körpers treffend nennt. Auf ein schwarzes Strohpferd, das an einem Baum im Salzauer Park hängt, drischt die Künstlerin so lange ein, bis es zerplatzt und seinen Inhalt freigibt: Rotwein und Kalbfleisch, Blut und Leib mit deutlich christlicher Metaphorik. Doch was der Tod als unausweichlicher Bestandteil des Lebens vergehen lässt, vermag die Kunst wieder zusammenzusetzen. Hill bindet sich die Gliedmaßen des zerstörten Pferdes an den eigenen Leib und macht sich auf zu einem Auszug aus dem Paradies oder auch der Hölle. Einen Ariadne-Faden zieht sie hinter sich her zu einer Art Schrein, den sie einige hundert Meter weiter im Salzauer Wald aus Ästen bereitet hat, um dort das Pferd als Erinnerung „beizusetzen“. Ein ritueller Moment, ein bewegender zugleich für das andächtig schweigende Publikum.

Voller Körpereinsatz mit christlicher Metaphorik: Rose Hill

Und immer wieder die Körper in Interaktion mit den Dingen – wie auch in Frauke Frechs „Creation 2“. Aus Mullbinden „ent-wickelt“ sich die Muthesius-Studentin, um damit wiederum das Publikum „ein-zuwickeln“, es zu verknoten, ein Netzwerk von Beziehungen zu stricken. Manchem mag das als etwas zu offensichtliche Symbolik erscheinen, allein, der Akt überzeugt als solcher, als performativer, gelebter.

Eben weil Performance-Kunst nur als gegenwärtiges „Event“ wirklich lebt, stellt sich beim Festival die zentrale Frage, ob es sinnvoll ist, sie zu dokumentieren, aufzuzeichnen, ja, über sie in Form eines Dokuments wie diesem zu berichten. Die von Anja Kripke zusammengestellte Schau von Video-Performances bebildert dies, indem sie einerseits „bloße“ Dokumente, Konserven von Performances zeigt, aber auch Arbeiten wie Stefan Haubergs „Möbiusband“, bei denen das Video-Medium nicht nur aufzeichnet, sondern Teil der Performance ist. Am Ende einer Latte hat Hauberg die Kamera befestigt und bewegt sie nun mit der Latte jonglierend durch den Raum. Dabei entstehen überraschende Perspektiven, der Raum wird zum Lebensraum für das Auge der Kamera, das die dem Zuschauer leiht. Ein schönes Beispiel für die noch junge Kunst der Video-Performance, mit dem das Festival einmal mehr beweist, wie nah es am Puls aktueller Performance-Künste ist.

Und wie nah am Lebendigen einer Kunst, die manchmal „ver-rückt“, bizarr erscheint, aber das Konstrukt Kunst und die Schöpfung Körper auf so eindringliche Weise vermengt und verbindet. (jm)

Infos unter www.performance-festival.de.

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