57. Internationale Filmfestspiele Berlin - Berlinale 2007

Vergissmeinnicht in Ontario

„Away From Her“ (Sarah Polley, CAN 2006)

Es beginnt ganz harmlos. Fiona stellt nach dem Abtrocknen wie selbstverständlich die saubere Pfanne in den Eisschrank. Beim Essen kennt sie den Namen des Getränks nicht mehr, das sie anbieten will – es ist Wein – und eines Tages findet sie den Weg nach Hause nicht, bis Grant, ihr Mann, sie glücklicherweise in der Winterkälte entdeckt. Grant macht sich nichts vor; er bemerkt die beginnende Demenz seiner Frau, die er nach 44 Jahren immer noch liebt, und wächst förmlich über sich hinaus, indem er sogar ein Pflegeheim für sie auftut. Fiona liebt ihn ebenfalls; wahrscheinlich deswegen befürwortet sie umstandslos den Umzug nach „Meadowlake“. Sie sorgt sogar dafür, dass Grant dem Grundsatz des Heimes, dass Patienten während der ersten 30 Tage ihres Aufenthalts nicht einen einzigen Besucher von außerhalb empfangen dürfen, Folge leistet. Als Grant schließlich zu Besuch kommt, findet er Fiona unzertrennlich von dem Patienten Aubrey, der im Rollstuhl sitzt – ihn selbst hingegen beachtet sie kaum. Und als Marian, Aubreys Frau, ihren Mann nach Ende ihres Urlaubs aus dem Heim wieder zu sich nach Hause holt, bricht für Fiona eine Welt zusammen ...

Julie Christie und Gordon Pinsent in „Away From Her“ (Foto: Berlinale)

Sarah Polley ist noch keine 28 Jahre alt und doch weit davon entfernt, das Thema der Demenzerkrankung meist älterer Menschen der Zukunft zu überlassen. Vor Jahren habe sie Alice Munros Kurzgeschichte „The Bear Came Over the Mountain“ gelesen, die sie so lange nicht mehr los gelassen habe, bis sie die Rechte erworben und das Drehbuch zu ihrem Film geschrieben habe. Und noch eine klare Vorstellung hatte Polley: Julie Christie für die Rolle der Fiona zu gewinnen, sie und keine andere. Es soll lange gedauert haben, bis sie Christie überzeugt hatte, aber es gelang. Die Rolle des Grant übernahm der 75-jährige kanadische Schauspieler Gordon Pinsent; Aubrey und Marian wurden von Michael Murphy und Olympia Dukakis dargestellt. Im September 2006 wurde „Away From Her“ beim TIFF (Toronto Film Festival) präsentiert.

Sarah Polley, die bereits als Kind vor der Kamera stand und 2003 unter der Regie von Isabel Coixet als krebskranke junge Frau in „My Life without Me“ bereits bei der Berlinale vertreten war, hat noch zahlreiche weitere Pläne fürs Regiefach. Nur ihre politischen Aktivitäten lasse sie vorerst ruhen, um intensiven Projekten wie „Away From Her“ gerecht zu werden.

Julie Christies Verkörperung der Fiona ist bedeutsam für die Eindringlichkeit und Poesie des Films. In der 1941 geborenen Christie nimmt die als sympathische, stilsichere und gebildete „Lady“ eingeführte Fiona ihre auch bei fortschreitender Demenz schöne und ungebrochen charmante Gestalt an. Zwar fühlt der Zuschauer mit Grant, wenn sie ihn – wiederum auf charmante Weise – mit einem „Du bist wirklich hartnäckig“ und „Du kommst ja sicher bald wieder, nicht wahr?“ abserviert, um sich „ihrem“ Aubrey widmen zu können. Die hässlicheren Erscheinungsformen der Krankheit bleiben jedoch anderen vorbehalten: dem völlig hilfsbedürftigen Aubrey beispielsweise, und der niedlichen, Bridge spielenden alten Dame, die anfangs noch die Gebärdensprache zum Gespräch mit ihrer gehörlosen Tochter beherrscht, diese schließlich aber nicht mehr wieder erkennt und kreischend abwehrt. Und Grant? Hat in jungen Jahren wohl auch ein paar Studentinnen vernascht; trotzdem zeugen die zahlreichen Rückblenden des damals jungen Paares davon, wie sehr sie einander zugetan und „füreinander bestimmt“ schon vor über 40 Jahren waren. Nein – es kommt kein Kitsch auf, aber im Zweifelsfall hat Fionas Alzheimer-Erkrankung, trotz aller Tragik, noch eine ästhetisch angenehme Seite. Dies ist zwar ein Plädoyer für die Würde der Erkrankten, lässt einen aber doch immer wieder erahnen, dass es sich um einen Film handelt und die Wirklichkeit des Lebens mit einem Demenzkranken wohl noch andere Schlagseiten hat. Einfühlsam wird aber auch die Würde der zurück bleibenden Partner dargestellt: Grants Skepsis und Befremden über das Heim mit seinem geradezu beschönigenden Namen „Meadowlake“ und die kategorisch-kühle Heimleiterin (Madeleine Montpellier), Marians Einsamkeit mit dem zu pflegenden Aubrey; die Kinder machen ihr praktische Haushaltsgeschenke, lassen sich aber kaum sehen.

Skilanglauf war eines von Fionas und Grants liebsten Hobbys während der Jahrzehnte, die sie in ihrem Landhaus verbrachten. Am Ende bleiben Spuren im Schnee der Weite von Ontario – und für Filmfans wohl auch eine Erinnerung an Julie Christie in der Rolle der Lara im Klassiker „Doktor Schiwago“ von 1965. Die Erinnerungen sind das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können, sagt man. Eine zweifelhafte Sentenz im Hinblick auf Demenzkranke – aber so lange noch eine einzige liebevolle Erinnerung da ist, sollte man sie laut „Away From Her“ genießen. (gls)

Away From Her, CAN 2006, 110 Min., 35 mm. Buch: Sarah Polley (nach der Kurzgeschichte „The Bear Came Over the Mountain“ von Alice Munro), Regie: Sarah Polley, 
Kamera: Luc Montpellier, Schnitt: David Wharnsby, Darsteller: Julie Christie, Gordon Pinsent, Olympia Dukakis, Michael Murphy, Wendy Crewson

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