58. Internationale Filmfestspiele Berlin - Berlinale 2008

Immer wieder das müde Lied der Gewalt

Ein Rückblick auf den Wettbewerb der 58. Filmfestspiele Berlin 2008

Um es gleich zu sagen: Der Wettbewerb der diesjährigen Berlinale zählte zu den schwächeren. Enttäuschungen allenthalben. Nur wenige Filme hielten, was man sich von ihnen versprochen hatte. Drei Dinge waren besonders kennzeichnend für viele Filme der Auswahl des Festivaldirektors Dieter Kosslick und seines Programmteams. Überbordende Gewalt, der immer mehr um sich greifende Missbrauch der Filmmusik zum ständigen penetranten Emotionsbeförderer und die Neigung zur quälenden Überlänge, die die Filme nicht besser macht, aber erzählerische und dramaturgische Schwächen bezeugt.

Die Tendenz zu immer brutaleren, qualitativ und quantitativ sich steigernder Gewalt in vielen Filmen, ohne die es für viele Autoren und Regisseure nicht mehr zu gehen scheint, war frappant. Sei es als Ausweis für einen so genannten „authentischen“ Hyperrealismus, der quasi das Dokumentarische einer Story belegen soll, nach dem Motto, so hart sei die Wirklichkeit nun einmal, sei es als Abbild für die Verrohung der Charaktere, die heutzutage oft nur noch als „stark“ gelten, wenn sie ihren Existenzkampf aufs Härteste ohne Rücksicht auf Verluste führen und dabei seelisch verkrüppeln. Als dritte Aggressions- und Gewaltvariante bot sich grotesk und absurd überdrehte Gewalt mit einzelnen Comedy-Elementen an (Tarantino lässt schön grüßen).

Vertreter für den hyperrealistischen Gewaltfilm (hier mit politischen Anspruch wegen seiner gesellschaftlichen Anklage) war der Gewinner des Goldenen Bärens, der brasilianische Film „Tropa de elite“ (Regie: José Padilha), der uns in einer spannenden Geschichte über den Kampf einer Polizei-Elite-Einheit in den Favelas von Rio de Janeiro fast pausenlos gute zwei Stunden lang mit härtester Gewalt überflutet und das im seinem ebenso endlosen Off-Kommentar auch noch quasi soziologisch begründet. Da wird nichts ausgelassen. Von wilden Straßenschießereien, mit nervöser Handkamera eingefangen, bis hin zu blutig dargestellten Folter- und Mordszenen, die in der Selbstjustiz einer ohnmächtigen Polizei kulminieren. Das volle Repertoire. Sicherlich wirkt das nicht nur schockierend, sondern auch eindringlich, zumal der Film anscheinend die tatsächliche ausweglose Situation zwischen den Favelas-Banden, ihren korrupten Mitspielern auf Seiten der lokalen Polizei, einer fast ohnmächtig dagegen kämpfenden Polizeieinheit und tatenlos zuschauenden Politikern realistisch schildert. Aber es bleibt dennoch auch eine nervliche und fragwürdige Zumutung für den Zuschauer, der noch nicht vollends abgestumpft ist von der täglichen Kinogewaltkost, die ja gerade jetzt wieder in Hollywood höchst prämiert wurde (Oscars für Cohens „No Country for Old Men“, „There Will Be Blood“ von Paul Thomas Anderson).

„Tropa de elite“ (Foto: Berlinale)

Apropos Zumutungen, dergleichen gab es etliche. In punkto Gewalt ragte besonders die französische Produktion „Julia“ (Regie: Erick Zonca) mit der für ihre Titelrolle oscar-nominierten Tilda Swinton heraus, die in den USA und Mexiko gedreht wurde. Brutal wird von jener Julia, die hier eine heftig heruntergekommene Alkoholikerin ist (Tilda Swinton mit darstellerischem Mut zur hässlichen körperlichen und charakterlichen Selbstentblößung), ein kleiner Junge (Aidan Gould) seinem millionenschweren Großvater entführt. Die sich anschließende Erpressung führt wegen ihrer dilettantischen Durchführung in eine nicht enden wollende Katastrophe, bei der die sich barbarisch gebende, aber unsichere „Trinkerin“ den Jungen zuerst mit brutaler Rohheit traktiert, sich schließlich aber in ein fürsorgliches, furchtloses „Muttertier“ verwandelt. Kaum erträglich, wie Tilda Swinton anfangs dem „Lütten“ wie eine wild gewordene Furie an den Haaren reißt, ihm ständig mit ihrem Riesen-Revolver vor der Nase herumfuchtelt oder ihn mit Klebeband die Hände abschnürend an Heizungsrohre fesselt. Und als man glaubt, endlich einmal durchatmen zu können, setzt die Story noch einen drauf. Mexiko als Land der Gesetzlosen. Julia wird der kleine Junge von dortigen Gangstern entführt. Sie findet deren Versteck und spielt sie geschickt gegen einander aus. Ohnmächtig und hektisch suchen die Vorstadtschurken dann nach dem Verräter in den eigenen Reihen, den es gar nicht gibt. Halt wieder „Mord- und Totschlag“, der aber wegen der entnervten Entführer so grotesk wirkt, dass man schon wieder lachen muss. Aber vielleicht könnte man sonst diese langen 138 Filmminuten auch gar nicht mehr durchstehen. Zu eintönig und angestrengt wird das müde Lied der Gewalt geboten, das hier letztendlich vergeblich auf Cassavetes’ „Gloria“ verweist.

Tilda Swinton mit Mut zur Hässlichkeit in „Julia“ (Foto: Berlinale)

Als schicksalhaftes Epos mit Gewalt als einzig wahrhaftem Lösungsmittel aller Konflikte kommt schließlich Paul Thomas Andersons „There Will Be Blood“ mit einem berserkerhaft spielenden Daniel Day-Lewis daher. Inspiriert von den ersten 150 Seiten aus Upton Sinclairs sozialkritischem Roman „Öl!“ und der Biografie des kalifornischen Ölmagnaten Edward L. Doheny (1856-1935), erzählt Anderson in seinem Film die Geschichte von Daniel Plainview, der um die Wende zum 20. Jahrhundert im amerikanischen Westen nach Silber sucht, stattdessen Öl findet und binnen weniger Jahre zum schwerreichen Tycoon aufsteigt. So exzentrisch wie seine Hauptfigur ist auch der Film. Doch das 158 Minuten lange Drama zwischen Gründermythos, einer Westerngeschichte der Moderne und der Tragödie des Helden eines pervertierten „Heimatfilms“ erschöpft sich schon nach gut einer Stunde Spielzeit. Im Grunde geschieht dann nichts Neues mehr. Kennt man die ersten 60 Minuten, kennt man bis auf Nuancen den ganzen Film. Ein Mann sucht rigoros Reichtum und vor allem Macht im Kampf ums Öl. Sein Adoptivsohn (Dillon Freasier), der nicht weiß, dass er nicht der leibliche Sohn ist, wird vom Vater nur als Mittel zum Zweck benutzt. Er soll als Kind die Farmerherzen erweichen, damit jene Daniel Plainview ihr Land in Unkenntnis des eigentlichen Wertes zur Ölförderung noch billiger überlassen, als sie es sonst schon täten. Gegen Plainview gestellt wird religiöser Fanatismus, der in einem selbsternannten evangelikalen Prediger mit Showtalent, Eli (Paul Duno), seine scheinheilige Verkörperung findet. Umso reicher und mächtiger Plainview wird, umso kälter kommt er herüber. Doch Radikalität und Skrupellosigkeit scheinen von vornherein in Plainviews selbstaufopfernder Schonungslosigkeit angelegt zu sein. So spult sich dann das lange Leben des Protagonisten zur Macht, die praktisch sinnlos ist, voraussehbar ohne wirklich überraschende Momente ab. Voraussehbar, es sei denn, man erwartet nicht scheinbare Anwandlungen von Freundlichkeit bei Plainview und kurzfristige Siege seines Gegenspielers. Sinnlos, es sei denn, man sieht einen Sinn im Weg zur paranoiden Vereinsamung der Hauptfigur.

Exzentrischer Tycoon: Daniel Day-Lewis in „There Will Be Blood“ (Foto: Berlinale)

Diese dunklen Filme und vielleicht noch der umstrittene Dokumentarfilm „Standard Operating Procedure“ des Amerikaners Errol Morris über die bekannt gewordenen Foltergeschichten der Amerikaner im irakischen Gefängnis Abu Ghraib (er gewann damit den Silbernen Bären als Großen Preis der Regie) überschatteten in ihrer „Fragwürdigkeit“ selbst die erfreulichen Beiträge im Wettbewerb. Da ist zum einen die iranische Familienkomödie von den Leben auf dem Lande, „Avaze Gonjeshk-Ha“ („The Song of Sparrows“, Regie: Majid Majidi), zu nennen. Sie erzählt die Geschichte eines arbeitslos gewordenen Familienvaters, der den Versuchungen der nahen Großstadt erliegt und zum kleinen, emsigen Raffke wird, aber durch die fürsorgliche Solidarität seiner Frau und Kinder schließlich nach einigen Irrungen und Wirrungen wieder auf den rechten Weg gebracht wird. Der Film gewährt einen überraschend heiteren Einblick in den alltäglichen Überlebenskampf einer Familie im Iran, stellt Werte wie Solidarität und Freundschaft in den Vordergrund und bezaubert nicht selten durch poetische Bilder einer ländlichen Idylle, die im Grunde genommen durch nichts zu gefährden ist. Manche mögen das naiv nennen, aber die Heiterkeit dieses Films gewann gerade durch den Kontrast zu den mehr oder wenigen humorlosen Gewaltballaden einen nicht zu unterschätzenden Reiz. Reza Najie wurde für seine Darstellung des herzensguten Familienvaters der Silberne Bär als bester Darsteller zugesprochen.

„Avaze Gonjeshk-Ha“ (Foto: Berlinale)

Ebenso einfach erzählt der mexikanische Film „Lake Tahoe“ (Regie: Fernando Eimbcke) eine lakonische Geschichte, in der grimmig humorvoll der Umgang mit dem Tod scheinbar wie nebenbei verarbeitet wird. Fast mathematisch im Formalen, in diesem Falle ausschließlich feste Kameraeinstellungen, unterbrochen durch sehr lange Schwarzblenden. Der Ton läuft weiter, doch das bildliche Geschehen wird für lange Sekunden ausgeblendet, läuft ins Leere. Geschildert wird ein Tag im Leben eines Jugendlichen (Diego Cataño).

In Leerstellen erzählt: Diego Cataño in „Lake Tahoe“ (Foto: Berlinale)

Dieser befindet sich auf einer kafkaesken Odyssee, um Hilfe für die Reparatur seines durch einen Unfall fahrunfähig gewordenes Autos zu finden. Der Schauplatz des Geschehens ist eine mehr oder weniger idyllische Einöde, vorstädtische Industriebrache, deren große leere Räume den filmischen Leerstellen entsprechen zu scheinen. Verstohlene Komik und leise Trauer liegen nah bei einander in diesen stillen Film. Erst gegen Ende wird die immer mitschleichende, lähmende Starre des Jungen aufgelöst, der wie seine ganze Familie um seinen gerade erst verstorben Vater trauert. Staubtrocken, sehr ruhig, am Tage schlafwandelnd und völlig unspektakulär läuft dieser Film ab, an dessen Ende dann doch die Hoffnung einer keimenden jungen Liebe steht. Ein vorgeblich kleiner Film, der es in sich hat. (Helmut Schulzeck)

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