49. Nordische Filmtage Lübeck

Bewegte und bewegende Stillleben

„You, the Living / Du levande“ (Roy Andersson, S 2007)

Mitteilung an den Webmaster, der diese Besprechung online stellt: Bitte möglichst viele Screenshots in den Text einbauen! Denn Bilder sagen mehr als Worte, zumal bei einem Film, der so über die stilllebendigen Bilder lebt wie „You, the Living“.

Nach „Sounds from the second Floor“ (2000) ist dies Roy Anderssons zweiter Genie-, äh ... Regie-Streich, die bewegten Bilder, die ja Markenzeichen des Mediums Film sind, gleichsam ganz und gar auszubremsen. Seine 94 Minuten Episodenfilm bestehen aus 50 Tableaus, die wie wohl arrangierte Gemälde wirken. Die Kamera ist unbeweglich, sie fährt nicht, sie zoomt nicht, sie steht still wie das Auge eines Malers. Die immer in der Totale abgebildeten Räume, in denen die Figuren ihre kleinen, absurden, grotesken Lebensaussschnitte leben oder auch inszenieren, sind Stillleben, die streng nach Zentralperspektiven organisiert sind. Fast immer sieht man in der Ferne eine sich ins Unendliche erstreckende (Stadt-) Landschaft, selbst wenn die nur in einem Fensterausschnitt sichtbar ist. Kameramann Gustav Danielssons statische Einstellungen, deren Lichtführung sie in die unwirkliche oder auch ganz und gar malerisch wirkende Patina von Pastelltönen taucht, sind bis ins feinste Detail nach Gesetzen der Malerei organisiert: Vordergrund, Hintergrund, Nähe, Ferne – ein kleiner Kosmos in jedem (szenischen) Tableau.

Absurde Stillleben in Pastelltönen – vom Webmaster getreulich ongelinet: „You, the Living“ (Fotos: NFL)

Mal abgesehen davon, dass dadurch in jeden Blick des Zuschauers das bis zum absurden Exzess Inszenierte eingemeißelt wird, kann der Blick des Zuschauers frei und ungebunden wie über ein Gemälde schweifen, entdeckt immer wieder neue, surreale Details und wird durch dieses ruhige Streifen geschärft für die Aktion, die im Tableau sich ereignet. „Der Zuschauer soll selbst aktiv werden, indem die Kamera fixiert ist und so nicht durch ihre Bewegung seine Wahrnehmung und Aufmerksamkeit lenkt“, so Anderssons ästhetisches Konzept: „Filmemachen ist Grundlagenforschung!“. Das klingt wie ein sehr artifizielles Experiment, ist es in seiner manirierten, ja manischen Konsequenz auch. Doch die sich einstellende Langeweile ob der statischen Bilder wirkt ungemein bewegend und befreiend für den zuschauenden Geist – zumal als Gegenentwurf zum Zeitalter der Videoclips mit Schnittfolgen von maximal fünf Sekunden.

Dies nicht zuletzt durch die Absurdität der im jeweiligen Tableau erzählten Mini-Geschichten, manchmal wie in einem Gemälde von Hieronymus Bosch gleich mehreren. Da probt ein Freizeitmusiker stoisch auf seiner Pauke oder Tuba, bis von unten die Nachbarn pochen, oder die Ehefrau, Karikatur des Schürzentypus, Alarm schlägt. Ein Mädchen steht in romantisch-industriellen Landschaftsweiten, wie zuletzt Caspar David Friedrich seine Figuren in die Fülle der Leere stellte, und sehnt sich nach einem Popstar, der sie 20 Tableaus später über die Hochzeitsschwelle trägt. Ein anderer Mann sinniert in seinem stau-verlangsamten Auto, das nur mühsam im Tableau vorankommt, über den Unsinn der Mobilität ...

Doch nur scheinbar sind die Tableaus unverbunden gereiht. Immer wieder ergeben sich Querverbindungen, etwa über eine Bar, an die die Figuren aus früheren Tableaus trotten, wenn zur „Last Order“ gerufen wird, sich dort begegnen und ihre unverbundenen Stilllebensgeschichten verkoppeln. Andersson bedient sich dazu häufig – und das mit deutlicher Ironie – des filmischen Mittels des Matchcuts. Freilich immer bemüht, die Verbindungen so zufällig und grotesk zu halten, wie sie auch das Leben spielt. Wenn am Ende das sehnende Mädchen und der bejubelte Popstar ihre Liebesgeschichte im pastellenen Kitschkabinett vollenden und dazu vor dem Küchenfenster ein Bahnsteig mit jubelnden Fans vorbeizieht, wenn also die „Immobilien“ zu Zügen ins Irgendwo werden, hat Andersson den Zuschauer endgültig für sein filmisches, ja, beinahe bewusst anti-filmisches Weltentwurfskonzept gewonnen. Eine wahrhafte „Göttliche Komödie“, schreiend komisch erzählt – und philosophisch schweigend bebildert. (gls)

„You, the Living / Du levande“, S 2007, 94 Min., 35 mm, Buch, Regie: Roy Andersson, Kamera: Gustav Danielsson, Schnitt: Anna Märta Waern, Produktion: Pernilla Sandström, Philippe Bober, Roy Andersson Filmproduktion AB.

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